Wenn die Gegenwart zum Stichwortgeber der Geschichte wird...

Geschrieben am 02.06.2022
von Claude Léderrey


Michael Sauer wies in seiner 2001 erschienenen Monographie, „Geschichte unterrichten“ dezidiert darauf hin, dass der wichtigste Bezugspunkt für unsere Beschäftigung mit Vergangenheit die Gegenwart ist. Er meine dazu wörtlich: „Geschichte kann, Geschichtsunterricht soll einer historisch fundierten Gegenwartsorientierung dienen.“ Die Gegenwartsorientierung gehört also folgerichtig wie die Multipespektivität, die Problem- oder die Methodenorientierung zu den Prinzipien geschichtsdidaktischer Unterrichtsplanung. Prinzipien sind didaktische Grundsätze zur Planung von Lernprozessen. Wer ein konstruktivistisches Geschichtsverhältnis vertritt und Geschichte als den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive begreift, der muss darüber nachdenken, welche Relevanz historische Ereignisse und Entwicklungen für die Gegenwart und Zukunft von Schülern haben. Damit ist der Lerngegenstand „Geschichte“ weit mehr als nur die blosse Anhäufung scheinbar feststehender Wissensbestände. Historisches Denken ist eine spezifische Art des Denkens und nimmt als „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ immer seinen Anfang von konkreten Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. Dies entspricht ganz spezifischen Orientierungsbedürfnissen.

Es sind die von Wolfgang Klafki gesammelten „Schlüsselprobleme“, welche dabei helfen könnten, einen Gegenwartsbezug, den Bezug zur Gegenwart der Schülerinnen und Schüler zu schaffen. Dazu gehörten z. B. Krieg, Frieden, Umwelt, Technikfolgen, Demokratisierung, Verteilungsgerechtigkeit in der Welt, Gleichberechtigung und Menschenrechte.

Stehen diese Themen nicht im Zentrum des Geschichtsunterrichts, besteht die latente Gefahr, dass sich die Schülerinnen und Schüler die Vergangenheit oft kaum anders als die Gegenwart in einer anderen Epoche vorstellen können. Selbst die Zukunft ist dann nichts anderes als eine Verlängerung der Gegenwart. Verstärkt wird dieses allmächtige Gegenwartsdenken zusätzlich durch ein Zusammenschrumpfen aller Vergangenheiten zu einer, zu „früher“. So spielt es oft auch keine Rolle, ob etwas vor 200, 700 oder 2000 Jahren geschah. Die Zeitdifferenz wird gar nicht wahrgenommen. Unterschiede werden damit erklärt, dass die Menschen früher nicht so viel wussten wie heute. Dies bedeutet, dass die Zeitdifferenz von den Schülerinnen und Schülern oft gar nicht wahrgenommen wird und damit auch keine Fragen an die Vergangenheit generiert werden. Auch der kontextuelle Bezug zu vorher gelerntem Wissen ist die grosse Ausnahme.

Wie können wir diesem Problem begegnen? Uwe Uffelmann meinte diesbezüglich, dass neben den kognitiven Bezügen auch emotionale Bezüge zwischen der heutigen Lebenswelt der Lernenden und dem historischen Stoff hergestellt werden müssen. Er spricht dabei von der „Bedeutsamkeit“ die es zu vermitteln und der „Betroffenheit“, die es bei den Schülerinnen und Schülern herzustellen gelte.

So oder so, der Gegenwartsbezug spielt aus der Schülersicht eine entscheidende Rolle für die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Durch ihn kann das Thema und damit der Stoff relevant werden, weil die Schüler erkennen, dass das bereits Vergangene doch noch etwas mit ihrer Existenz zu tun hat.

Angesichts der momentan krisengeschüttelten und zuweilen höchst emotionalen Zeit erlebt der Geschichtsunterricht gerade so etwas wie eine Hochzeit. Dabei ist es die Gegenwart, welche im eigentlichen Sinn die Stichworte für den Geschichtsunterricht liefert. Diese müssen erkannt und für den Unterricht vorbereitet werden. Aktuell sind dies in meinen Klassen die Flexibilität von Landesgrenzen, der Ursprung und die Genese der Neutralität, sowie die Zeitenwenden in der Zeit der Helvetik bis zum Wiener Kongress. Diese Termini werden im Unterricht anhand von Beispielen, Analogien sehr angeregt diskutiert. Die Erkenntnisse daraus werden dann zu historischen Narrativen weiterverarbeitet. Dabei stellen die Schülerinnen und Schüler immer wieder fest, wie nahe und aktuell uns das vermeintlich längst Vergangene in Wirklichkeit ist. Diese Erkenntnis macht im Unterricht unglaublich viel Spass und führt oft zu grossem Staunen. Vielleicht deshalb, da der Geschichtsunterricht, mehr als vermutet, etwas zum Verständnis des eigenen Lebens und dessen Umfelds beiträgt.  

 

«Der Schlüssel der Geschichte ist nicht in der Geschichte; er ist im Menschen.»

(Théodore Simon Jouffroy, 1796-1842)

 

Text geschrieben von Claude Léderrey, Klassenlehrperson SB1b